Der ‚nervöse Jude’ ist um 1900 ein Topos der inner- und außerpsychiatrischen Fachdiskurse. Dieser Topos steht im Mittelpunkt des interdisziplinär angelegten Bandes. Er exemplifiziert die Vorstellungen seiner Zeit, nach denen erbliche Anlagen und kulturelle Errungenschaften zu Krankheitsursachen avancierten. Die Gesundheit des Einzelnen schien von Erbanlagen seiner Ethnie und Umwelteinflüssen seiner Kultur zugleich bedroht. Die spezifische Attraktivität dieses Topos lag vor allem darin, dass man mit seiner Hilfe kollektive Entitäten innerhalb von Medizin und Psychiatrie beschreiben konnte. Auch die Psychoanalyse und die psychoanalytische Psychosomatik begreift die individuelle Lebensgeschichte vor allem auch als Ausdruck einer allen Menschen gemeinsamen, gleichsam prähistorischen Seelenstruktur, so dass gewisse Einflüsse der Moderne zu Symptomen der Überforderung führen sollen. Die Frage nach den Transformationsprozessen zwischen individueller Krankengeschichte und kollektiver Gruppenidentität wird hier von verschiedenen Perspektiven aus thematisiert.
Ce line Kaiser Knihy




Szenen des Subjekts
Eine Kulturmediengeschichte szenischer Therapieformen seit dem 18. Jahrhundert
Ein Arzt spielt ahnungslosen Patienten Schlüsselszenen ihrer Wahnwelten vor. Ein anderer verstrickt sie in Phantasmagorien. Und ein dritter lässt sie selbst Theater spielen. Szenischen Praktiken kommt in der Geschichte der (Proto-)Psychotherapie eine zentrale Funktion zu. Sie dienen der Einsetzung des therapeutischen Raums, strukturieren die Begegnung zwischen den beteiligten Akteuren, werden als Interventionen im therapeutischen Prozess eingesetzt und entfalten dabei je eigene Dynamiken. Céline Kaisers Untersuchung leistet einen Beitrag zur Analyse szenischer Räume, Praktiken und Prozesse seit dem 18. Jahrhundert und reflektiert sie im Rahmen der Medical Humanities als Medien- und Kulturgeschichte der Psychotherapie.
SzenoTest
Pre-, Re- und Enactment zwischen Theater und Therapie
Praktiken des Reinszenierens, des Nachstellens und der Vorwegnahme künftiger Ereignisse spielen in vielen kulturellen Bereichen eine Rolle. Hierzu zählt das Feld der Psychotherapie, in dem sie vom 18. Jahrhundert bis heute Relevanz besitzen. Aktuelle kulturwissenschaftliche Forschungen haben verstärkt populäre und künstlerische Spielarten des Reenactments zum Thema gemacht, Zusammenhänge zu dieser parallelen Geschichte des (Re-)Enactments sind bislang jedoch kaum beachtet worden. »SzenoTest« - unter diesem programmatischen Titel werfen wir einen gleichermaßen wissenschaftlich wie szenisch forschenden Blick auf exemplarische Kulissen und Praktiken zwischen Kunst, Theater und Therapie.
Mit einem zweibändigen Werk eröffnet der Arzt, Kulturkritiker und Zionist Max Nordau 1892/93 die psychopathologische Rede von der »Entartung« der modernen Kunst und Literatur. Ihre Vehemenz und Brüchigkeit wirft Fragen nach der verletzenden Kraft der Sprache und der Souveränität des Sprechers auf: Auf welche Weise funktioniert eine stigmatisierende Rede? Wie inszeniert sie ihre Handlungsmacht? Wie definiert sie ihr »Gegenüber« und welche Spielräume lässt sie? Im Anschluss an aktuelle Diskussionen um Zensur, Political Correctness und Judith Butlers Kritik der Hate Speech untersucht diese Studie Rhetoriken der Verletzung.