Ostwärts, wo der Horizont so endlos ist
Eine Schweizer Familie im Zarenreich
Eine Schweizer Familie im Zarenreich
Rund sieben Milliarden Feldpostbriefe und Postkarten schickten die Soldaten der deutschen Armee im Ersten Weltkrieg nach Hause. Gut sechzig davon verfasste der junge Elsässer Kaufmann Henri Levy aus der Perspektive eines einfachen Soldaten an der Ostfront. Als 24-jähriger Mann wurde Henri Levy in die königlich-preussische Armee eingezogen. An der Ostfront war er in den Jahren 1916–1918 als Krankenwärter im Feldlazarett und als Offizierskoch im Einsatz. Seine Feldpostbriefe an die Eltern berichten von den materiellen Bedürfnissen eines Frontsoldaten, den Schwierigkeiten eines traditionell-religiösen Juden im Armeedienst und vom zermürbend-banalen Kriegsalltag. Feldpostbriefe und Postkarten sind seit längerer Zeit Forschungsthema in Fachkreisen. Sie bilden als Kontrast zur offiziellen und offiziösen Kriegspropaganda einen einzigartigen Quellenkörper. Obwohl inhaltlich und formal zumeist von einer frappanten Gleichförmigkeit, weisen sie aufgrund des sozialen und familiären Umfelds der Briefschreiber dennoch einen stark persönlichen Charakter auf.
Die Arbeitervereine in der Schweiz waren für wandernde Handwerksburschen aus deutschsprachigen monarchischen Staaten nicht nur Anlaufstelle, sondern oft auch vorübergehendes oder dauerhaftes Heim. Sie boten ein umfassendes Programm für die arbeitsfreie Zeit: Bildungsort, Männerhort und politischer Handlungsraum. In den 1830er-Jahren von politischen Flüchtlingen als Gesang- oder Lesevereine gegründet, wurden sie zu Schulen für demokratische Praktiken und Organisationsfähigkeit. Später kamen Aktivitäten wie Turnen, Tanz und Theater hinzu. Die männerbündische Geselligkeit spielte eine große Rolle, und Alkohol- sowie Zigarrenkonsum waren weit verbreitet, wodurch Alltagsorgen für einige Stunden in den Hintergrund traten. Die deutschen Arbeitervereine wurden zudem zu Vorreitern der frühsozialistischen Arbeiterbewegung in der Schweiz. Die 'Eintracht Zürich', die mitgliederstärkste Sektion mit umfassender Infrastruktur, entwickelte sich bis zum Ersten Weltkrieg zu einem sozialistischen Kampfverein. Vor dem Erwerb des prestigeträchtigen Vereinshauses am Zürcher Neumarkt wurde sie zum Zentrum für ausländische und Schweizer Sozialdemokraten. Prominente Persönlichkeiten wie Liebknecht, Bebel und Bernstein fanden hier ein wichtiges Redeforum. Auch russische Exilrevolutionäre wie Lenin und Trotzki gesellten sich vor und während des Ersten Weltkriegs dazu.
Die Geschichte der Juden im Kanton Solothurn lässt sich mit den Begriffen 'Vieh, Textilwaren, Antisemitismus und Alltagssorgen' umreißen. Seit mehr als 140 Jahren existiert in der Aarestadt eine jüdische Religionsgemeinschaft, die auf eine blühende Zeit zurückblickt, als jüdische Vieh- und Pferdehändler aus dem Elsass das Stadtbild prägten. Die rechtliche Niederlassung wurde jedoch erst in den 1860er Jahren erlaubt; zuvor waren Juden lediglich als durchziehende Krämer und Viehhändler ohne festen Wohnsitz präsent. Diese strengen Regelungen folgten auf die Vertreibung und Ermordung der Juden während der Pestzeit im 14. Jahrhundert. Ein weiteres dunkles Kapitel ist die Vertreibung der Juden aus Dornach, wo zwischen 1650 und 1736 eine Judengemeinde existierte. Der Überblick über die 'Geschichte der Juden im Kanton Solothurn' beleuchtet den langen Weg einer ethnisch-religiösen Minderheit in einem katholisch-liberalen Kanton zur rechtlichen Gleichstellung. Der Fokus liegt auf dem Vieh- und Pferdehandel im 19. Jahrhundert sowie dem aufkommenden Textil- und Konfektionshandel, in dem jüdische Kaufleute eine zentrale Rolle spielten. Auch der Beitrag der Juden zur Gründung des Städtebundtheaters und zur Psychiatriegeschichte wird gewürdigt. Das Buch zeigt die bedeutende Rolle einer kleinen, aber einflussreichen Minderheit in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Kantons Solothurn.
Es gibt Menschen, die bereit sind, für eine Idee alles zu geben, wie die russische Sozialrevolutionärin Lidija Petrowna Kotschetkowa und der Schweizer Anarchist Fritz Brupbacher. Sie heirateten 1901 in Zürich, lebten jedoch größtenteils getrennt, da sie in ihren Heimatländern politisch aktiv sein wollten. Kotschetkowa arbeitete als Landärztin und Revolutionärin im Zarenreich, während Brupbacher als Arbeiterarzt und anarchistisch orientierter Lokalpolitiker in Zürich tätig war. Trotz der geografischen Trennung glaubten sie an die Beständigkeit ihrer Liebe, bis kulturelle Missverständnisse und unterschiedliche Lebensrealitäten sie nach achtzehn Jahren auseinanderbrachten. Ein einzigartiges Konvolut von rund sechstausend Briefen, Postkarten und Telegrammen aus der Zeit von 1897 bis 1915 dokumentiert ihre unkonventionelle Ehe, die den damaligen Vorstellungen von Rollenteilung widersprach. Gleichzeitig wird durch die Auswertung der Briefe Kotschetkowas und Quellen der russischen Geheimpolizei ihre Lebensgeschichte rekonstruiert. Zudem wird die Basisarbeit der Sozialrevolutionäre im Zarenreich von 1905 bis 1909 analysiert, was neue Erkenntnisse über die Organisation, Probleme und Resonanz revolutionärer Untergrundarbeit in der russischen Provinz liefert.
Zwischen 1880 und 1939 emigrierten über drei Millionen Jüdinnen und Juden aus Polen und Russland bzw. der Sowjetunion. Auch die Schweiz und insbesondere die Stadt Zürich wurden für einen Teil der ostjüdischen Emigranten zur neuen Heimat. Bis 1939 erhielten rund eintausend ostjüdische Zuwanderer das Bürgerrecht der Stadt Zürich. In Aussersihl und Wiedikon bildete sich ein kleines Ostjudenviertel, wo bald Geschäfte mit ostjüdischem Angebot, Betstuben und ein reges Vereinsleben entstanden. Zahlreiche Künstler ostjüdischer Herkunft leisteten einen wichtigen Beitrag zum Kulturleben der Schweiz. Auch einige namhafte Vertreter der internationalen Arbeiterbewegung wie Pavel Axel'rod, Peter Pasternak, Rosa Luxemburg und Leo Jogiches hielten sich vorübergehend in der Limmatstadt auf. Doch die ostjüdischen Zuwanderer wurden in Zürich oft nicht mit offenen Armen empfangen. Besonders bei der Einbürgerung legten ihnen die städtischen Behörden Steine in den Weg: Einbürgerungsgesuche von Ostjuden wurden mehr als doppelt so oft abgelehnt wie jene der anderen ausländischen Bewerber. Dank einer systematischen Auswertung der Stadtratsprotokolle konnten erstmals Aussagen über die demographischen Merkmale der ostjüdischen Zuwanderer sowie ihr Alltagsleben in der Limmatstadt gemacht werden.